Wir haben es alle schon mal gehört: "Heile dein inneres Kind". Viele Menschen, die an diesem Punkt stehen bleiben und denken, jetzt habe ich es verstanden, ich muss einfach meinem inneren Kind begegnen, es liebhaben und dann wird alles gut, werden sehr wahrscheinlich damit sehr lange zu tun haben, ohne dass es wirklich von Erfolg gekrönt sein wird. Das so viel zitierte und so oft angeführte "Innere Kind" existiert nicht. Falls du dich jetzt fragst, was meine Aussage soll, hier eine Erklärung.
Die Realität hinter der Metapher: Kindliche Anteile
Weder ich, noch du, noch sonst irgendjemand hat ein Kind, das in ihm oder ihr inne wohnt, das dort durch uns versorgt werden kann und das von Verletzungen geheilt werden kann. Das "Innere Kind" ist nur ein Bild, eine Metapher, ein Mythos, der geschaffen wurde, um inneren ZUSTÄNDEN von Menschen einen eindrucksvollen Namen zu geben. Doch nur, weil es kein "Inneres Kind" gibt, heißt es NICHT, dass es sich nicht lohnen würde, mit "ihm" zu arbeiten.
Jeder, der diesen Text hier liest und einigermaßen versteht, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erwachsen. Während das "Innere Kind" nicht der Realität entspricht und eine reine fiktive Beschreibung von in der Kindheit geprägten inneren Zuständen ist, sollten wir viel eher unseren Blick weiten und auf das schauen, was es wirklich gibt. Es gibt erwachsene Menschen, die sich mit ihrer Kindheit oder in der Kindheit geprägten inneren Anteilen auseinandersetzen. Warum ist die Unterscheidung wichtig?
Die verbreitete Vorstellung vom "inneren Kind":
Das Bild vom inneren Kind erhält für viele Menschen die innere Spaltung aufrecht. Da gibt es das innere Kind in uns, das ein Überbleibsel von früher ist und mich heute. Als würden die Gefühle und das Erlebte von damals nicht zu uns gehören. Das führt dann schnell dazu, dass die Gefühle von damals innerlich weggehalten werden ("Das ist mein inneres Kind"). Doch wie wir bereits wissen, erzeugt Spaltung eher Vermeidung, Anpassung oder auch Dissoziation. Um innere Spaltung abzubauen, sollten wir uns fragen, was passiert an der Stelle wirklich?
Es gibt nur mich, als erwachsenen Menschen. In mir existiert kein inneres Kind. Was ich als "Inneres Kind" erlebe, sind in Wahrheit Gefühle (ich empfinde Wut, Traurigkeit etc.). Es sind alte Zustände, geprägt in der Vergangenheit, und dennoch bin ich es heute, hier und jetzt, erwachsen, der diese Gefühle JETZT erlebt und fühlt. Doch es gibt nicht nur die Gefühle, die sich aus unserer Vergangenheit speisen. Nicht jede Wut, jede Traurigkeit oder jeder Schmerz hat sich im Ursprung gebildet. Weshalb es wichtig ist, auch hier zu unterscheiden: Stammt dieses Gefühl von früher ab oder hat das Gefühl mit heute zu tun?
Das Konzept der kindlichen Anteile:
Wenn es von früher abstammt, dann sprechen wir von kindlichen Anteilen. Kindliche Anteile sind kindliche Zustände, die durch meist sehr spezifische Gegebenheiten ausgelöst werden. Wir haben oft den Eindruck, dass die Situationen uns "wie automatisch" auslösen. Wenn du dazu mehr wissen willst und neugierig bist, wieso das ganze nicht wirklich "automatisch" abläuft sondern uns nur so vor kommt, lass es mich wissen, und ich werde auch zu diesem komplexeren Thema einen Blogbeitrag schreiben.
Eine Metapher, die uns helfen kann, das mit den "Kindlichen Anteilen" besser zu verstehen, ist die der "Kindlichen Inseln". Stell dir vor, in deinem Gehirn gibt es verschiedene Inselgruppen, die sich zufällig anordnen, unterschiedlich groß sind und in "kindliche" und "erwachsene" Inseln unterteilt werden. Meist gibt es mehr erwachsene als kindliche Inseln zu entdecken. Stellen wir uns jetzt vor, du läufst mit diesen Inseln im Kopf durch die Gegend und plötzlich bemerkst du, nachdem du nach einem langen Arbeitstag nach Hause kamst, dass dein Mann mal wieder nichts im Haushalt gemacht hat und es aussieht wie im Schweinestall.
Aktivierung innerer Anteile:
Was jetzt oft passiert, wenn noch nicht so viel innerlich gearbeitet wurde: Eine deiner kindlichen Inseln wird aktiviert, und du identifizierst dich mit ihr. Die Insel spult das bekannte Programm ab. Es schallt von ihr runter "schon wieder", "mal wieder sieht mich keiner", "niemand nimmt mich ernst". Doch statt, dass diese Schalplatte in dir abspielt, ohne dass du dem Ganzen deine Aufmerksamkeit widmest, beginnst du zuzuhören und auf den Lärm der kindlichen Insel zu reagieren. Nun findet ein spannender Prozess statt. Du identifizierst dich mit dem alten Programm und beginnst dich in diesen Zuständen zu verlieren. Du beginnst vielleicht äußerlich deinen Partner anzugreifen "Warum konntest du denn nicht die Spülmaschine ausräumen", "Du solltest doch endlich mal deinen Aufgaben nachkommen", während du dich innerlich mal wieder "nicht geliebt" fühlst. All das passiert, während nebendran, deine erwachsenen Inseln (= deine erwachsenen Zustände), zusammenhangslos im Meer treiben. Die erwachsene Insel hat noch keinen Kontakt zu der Situation oder der kindlichen Insel aufgenommen.
Die Notwendigkeit erwachsener Differenzierung:
Dabei wäre diese besonders wichtig, um sich nicht mit dem alten Programm zu identifizieren. Die erwachsene Insel bringt die Kapazität mit, sich NICHT mit den innerlich auftauchenden und drängenden Zuständen der Kindheit zu identifizieren. Dafür braucht es oft ein Innehalten. Wir müssen lernen, innerlich zu differenzieren zwischen der kindlichen Insel und der erwachsenen Perspektive auf die Situation, die mehr der Realität und dem, was wirklich stattfindet, entspricht.
Aus der erwachsenen Perspektive werden mehrere oder auch alle Optionen, die wir in der Situation haben, mit einbezogen. Wir nehmen die Realität ganzheitlicher wahr, gehen nicht nur von einer Interpretation der Situation aus. Aus "Er macht es nicht, weil er mich nicht liebt", wird ein "Er braucht Ruhe und er kann es später machen". Aus der erwachsenen Perspektive identifizieren wir uns nicht mit dem kindlichen Zustand. Sondern wir vernetzen, die kindliche Insel mit den erwachsenen Inseln, indem wir wieder wahrnehmen, was die Realität ist, was hier wirklich passiert, anstatt einfach nur wahrzunehmen, was die kindliche Insel über die Situation zu sagen hat.
Die Bedeutung von Vergangenheitsarbeit
Und so arbeiten wir dann auch schlussendlich mit den kindlichen Zuständen und unserer Kindheit in uns. Statt die Zustände in uns abzulehnen (Ich darf nicht wütend sein), entwickeln wir eine erwachsene Kapazität, zwischen den kindlichen und den erwachsenen Zuständen zu differenzieren. Dadurch können wir die kindlichen Zustände entlarven, als beschränkte Sichtweise auf die Situationen. Wir können lernen, diese nicht mehr als einzige Option zu nehmen, die Situation zu interpretieren und wieder Zugang zu mehreren Optionen gewinnen. Hier hilft besonders die Frage "Wie möchte ich erwachsen mit dieser Situation umgehen?".
Umso mehr wir auch die Wunden unserer Kindheit aufdecken, desto besser werden wir darin, kindliche von erwachsenen Zuständen zu unterscheiden. Statt "Ich werde von meinem Partner nicht geliebt", können wir das Verständnis entwickeln, dass wir früher an einigen Stellen oft allein gelassen wurden, dass wir immer das Gefühl hatten, dass Mama oder Papa nicht für uns da waren und dass wir auf uns allein gestellt waren, weil Mama und Papa ihre Verantwortung nicht übernommen haben. Aus dieser Betrachtung heraus macht es Sinn, dass wir die Situation heute so erleben.
Entwicklung der erwachsenen Perspektive:
Im nächsten Schritt ist es wichtig, die Situation von heute neu zu bedenken. Heute sind wir erwachsen. Wir brauchen keine Mama und kein Papa mehr. Wenn unser Partner mal wieder nicht aufräumt, müssen wir nicht mit kindlichem Protest reagieren, aus der Sehnsucht heraus, dass er uns endlich "sieht". Sondern wir können für unser Umfeld sorgen, die Situation neu einordnen (unseren Partner und seine Verfassung mit einbeziehen) und eine neue Lösung finden. Je mehr wir die Vergangenheit als Informationsquelle über unsere heutige Erfahrung nutzen, desto mehr wir die Auswirkungen der Vergangenheit auf die heutigen Situationen hinterfragen und die Situationen aus einer erwachsenen Perspektive neu bedenken, desto mehr neue Verknüpfungen können entstehen, zwischen den alten kindlichen Anteilen und den neuen erwachsenen Perspektiven. Das ist auch, was die Arbeit an uns selbst ausmacht. Wir erstellen neue Verknüpfungen und entwickeln mehr erwachsene Perspektiven und erwachsene Kapazität mit den alten kindlichen Realitäten / Zuständen umzugehen. Wir unterscheiden, was in uns mit unserer Kindheit zu tun hat und was mit uns als Erwachsene und lernen uns zu desidentifizieren mit unseren kindlichen Zuständen, ohne dabei neue Spaltung zu erzeugen.
Die kindlichen Anteile bilden sich in der Kindheit in den ersten Lebensjahren. Sie prägen sich durch die Erfahrungen, die wir dort machen. Sie werden zur Brille, durch die wir die Welt sehen. Je mehr Verletzungen wir in der Kindheit erlebt haben, desto mehr abgespaltene kindliche Anteile bilden sich in uns, desto weniger erwachsenes Ich konnte sich in mir bilden. Desto mehr verstricken wir uns in Beziehungen und in unseren eigenen inneren Prozessen.
Praktische Schritte zur Desidentifikation:
- Der kindliche Anteil taucht in mir auf
- Ich kann ihn wahrnehmen
- Vergangenheitsarbeit
- Verletzung
- Was ist in der Kindheit passiert?
- Wo hast du das erlebt?
- Wie hat sie agiert?
- Was war genau?
- Konsequenz
- Was glaubst du, hat das mit dir gemacht?
- Anpassung daran
- Wie musstest du reagieren, um die Verletzung zu vermeiden?
- Verletzung
- Erwachsene Perspektive einladen
- Wie schaust du als Erwachsener jetzt darauf?
- Es ist nicht die Wahrheit
- Ich muss nicht von dem Anteil aus handeln
- Ich muss nicht auf den Anteil hören
- Wie schaust du als Erwachsener jetzt darauf?
- Ich habe eine erwachsene Perspektive, kann die Situation neu bedenken
- Wie sieht ein Erwachsener Umgang mit der Situation aus?
- Mehrere Optionen zu reagieren
- Weite Bandbreite an möglichen Bedeutungsgebung für ein und dieselbe Situation
- Wie sieht ein Erwachsener Umgang mit der Situation aus?
Entwicklung erwachsener Kapazitäten:
Wir sind erwachsene Menschen, die auf unsere Kindheit blicken und mit unseren kindlichen Anteilen in Kontakt kommen. Durch die Vergangenheitsarbeit bekommt die Kindheit wieder mehr Organisation, die Erfahrungen kommen mehr zur Ruhe, weil wir immer mehr erwachsene Perspektive auf die Situationen gewinnen. Die kindlichen Anteile schwächen ab, gehen nicht mehr sofort an, wenn wir mit auslösenden Situationen konfrontiert werden. Und wir haben neue Möglichkeiten mit Situationen umzugehen, wenn die kindlichen Anteile in uns aktiviert sind.
Wenn du dir in diesem Prozess Unterstützung wünschst. Wenn dir beim lesen klarer wurde, worum es geht und du jetzt gerne tiefer Einsteigen würdest oder wenn du einfach mal Lust hast, dich mit mir auszutauschen z.B. über eine Situation die du gerade als schwierig oder belastend erlebst, dann melde dich gerne über folgenden Link bei mir und wir widmen uns deiner Situation genauer.